Der Spiegel des Richters
Aus dem Garten des Richters Gwynne sind Schüsse zu hören. Zufällig befinden sich ein Polizist und ein Amateurdetektiv in der Nähe. Sie finden den Journalisten Flood im Gebüsch, der erklärt, Father Brown könne seine Unschuld beweisen ...
»Unser Beruf ist der einzige«, sagte Bagshaw, »dessen Profis
sich angeblich immer irren. Schließlich würde niemand Geschichten
schreiben, in denen Friseure nicht Haare schneiden
können, so daß ihnen ein Kunde helfen muß, oder in denen ein
Taxifahrer nicht Taxi fahren kann, bis ihm sein Fahrgast die
Philosophie des Taxifahrens erläutert. Natürlich würde ich niemals
leugnen, daß wir oftmals dazu neigen, uns in ausgefahrenen
Geleisen zu bewegen: oder, mit anderen Worten, unter all den
Nachteilen leiden, welche die Befolgung von Regeln mit sich
bringt. Die Romanschreiber irren aber gerade darin, daß sie uns
nicht einmal die Vorteile erlauben, die das Befolgen von Regeln
mit sich bringt.«
»Gewiß würde«, sagte Underhill, »Sherlock Holmes sagen, daß
er sich an logische Regeln halte.«
»Und hätte damit vielleicht recht«, antwortete der andere.
»Doch denke ich an gemeinsame Regeln. Es ist wie bei der Arbeit
eines Armeestabes. Wir fügen unsere Informationen zusammen.«
»Und Sie glauben nicht, daß Detektivgeschichten diese Möglichkeit
zugeben?« fragte sein Freund.
»Na schön, nehmen wir einen frei erfundenen Fall von Sherlock
Holmes und Lestrade, dem Detektiv von Amts wegen.
Sherlock Holmes, sagen wir mal, kann erraten, daß ein ihm völlig
Fremder, der die Straße überquert, ein Ausländer ist, nur weil
er sich nach dem Verkehr so umsieht, als fließe der nach rechts
statt nach links. Natürlich bin ich bereit zuzugeben, daß Holmes
das erraten kann. Natürlich bin ich sicher, daß Lestrade
nichts dergleichen erraten würde. Doch was man dabei außer Betracht
läßt, ist die Tatsache, daß der Polizist, der nicht raten
kann, sehr wahrscheinlich bereits wissen könnte. Lestrade
könnte bereits wissen, daß der Fremde ein Ausländer ist, bloß
weil seine Abteilung den Auftrag hat, alle Ausländer zu überwachen;
manche würden sogar behaupten, auch alle Einheimischen.
Als Polizist bin ich froh, daß die Polizei so viel weiß, denn jeder
wünscht seine Arbeit ordentlich zu tun. Aber als Bürger frage ich
mich manchmal, ob sie nicht zu viel weiß.«
Hörprobe (8:14) "Der Spiegel des Richters" aus der Reihe "Father Brown - Das Original" Laden des Audioplayers ...
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Anmerkungen des Übersetzers Hanswilhelm Haefs
"Revolver"
Chesterton verwendet die Ausdrücke Revolver und Pistole unbekümmert wie Synonyme, was für die Geschichten ohne Bedeutung ist, aber den Leser nicht zu falschen technischen Schlussfolgerungen verführen sollte.
"St. Dominic"
Die katholische Kirche kennt neun heilige Dominicus: Dominicus von Besians (oder: von Spanien), Dominicus de Calciata (oder: de la Calzada), Dominicus von Caleruega (oder: de Guzman, den Begründer des Predigerordens der Dominikaner O. P. = lat. Ordinis Praedicatorium), Dominicus von Gimel, Dominicus a Matre Dei, Dominicus Savio, Dominicus von Silos, Dominicus von Sora und Dominicus Spadafora; welchen Dominicus Chesterton hier meinte, ist unbekannt (vermutlich den Ordensgründer, obwohl gerade Father Brown auch der Dienst an der Kirche eines unbekannteren Dominicus zuzutrauen wäre).
Wikipedia-Artikel: Santo Domingo de la Calzada (1019 – 1109), spanish saint
Wikipedia-Artikel: Dominikus, Domingo de Guzman (1170–1221), Gründer des Dominikanerordens
Wikipedia-Artikel: Dominikus Savio (1842–1857), italienischer Schüler bei Don Bosco
Wikipedia-article: Dominic of Silos (Santo Domingo de Silos) (1000–1073), Spanish saint
Wikipedia-Artikel: Dominikus von Sora (951–1031), Abt
Wikipedia-article: Saint Dominguito del Val (died 1250) child martyr
"kleiner Palmenbaum"
Zu Beginn der Geschichte heißt es "die hohe Palme", typisch Chestertonsche Unachtsamkeit hinsichtlich der sachlichen Details.
"Green, obwohl er nicht so aussieht"
nämlich grün.
"die dichten Reihen großer ledergebundener Bände"
Da das englische Recht (wie das schottische und weitgehend das der USA usw.) im wesentlichen auf Präzedenzentscheidungen beruht, bedarf jeder praktizierende Jurist einer umfangreichen Sammlung eben jener Präzedenzfälle und -entscheidungen, die meist in dicken ledergebundenen Bänden veröffentlicht wurden, bis das Anschwellen des Berufsstandes zur billigeren Hardcover-Ausgabe führte; sie waren sozusagen ein Berufskennzeichen.
"Löwenzahn"
engl. "dandelion", von frz. "dent de lion" = Zahn des Löwen.
"De Quincey über Mr. Williams"
Thomas de Quincey (1785-1859) gilt als geistreicher und eleganter Essayist der englischen Romantik. In seinem Werk "On Murder considered as one of the Fine Arts" (Der Mord als schöne Kunst betrachtet), 2 Teile 1827 und 1839, wird mit parodierender Gelehrsamkeit, stilistischer Eleganz und unter Ausschaltung jeder moralischen Wertung eine Theorie der Perfektion des Bösen und des Verbrecherischen entwickelt, die durchaus ihre eigene Idealität besitzen könnte. Diesem Kabinettstück schwarzen Humors ließ de Quincey in seinem umfangreichen Postscript einen meisterhaften Dokumentarbericht über die sogenannten Ratcliffe-Morde folgen, die 1812 ein gewisser John Williams begangen hatte, der "sämtliche Mitglieder zweier Haushalte ausrottete und damit seine Überlegenheit über alle anderen Nachfahren Kains demonstrierte" (Postscript S. 74-118). Heute wirkt das Postscript wie ein Vorläufer von Truman Capotes Bericht über die Banalität eines vierfachen Mordes "In cold blood" von 1965.
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