Die Schauspielerin und das Alibi
Der Theaterdirektor Mundon Mandeville ist verzweifelt. Seine Hauptdarstellerin hat sich in der Garderobe eingeschlossen und die Premiere der "Lästerschule" droht zu platzen. Doch das ist nur das Vorspiel zu einem ganz realen Mord ...
»Wir fangen an, ein bißchen beunruhigt zu sein«, sagte der alte
Randall. »Sie scheint ziemlich außer sich, und wir befürchten,
daß sie sich sogar ein Leides antun könnte.«
»Zur Hölle!« sagte Mandeville auf seine einfache und kunstlose
Art. »Reklame ist ganz schön, aber die Sorte Reklame wollen wir
nicht. Hat sie hier irgendwelche Freunde? Hat irgend jemand
irgendeinen Einfluß auf sie?«
»Jarvis meint, der einzige, der mit ihr fertigwerden kann, ist der
Priester ihres Glaubens, gerade um die Ecke«, sagte Randall, »und
für den Fall, daß sie anfangen sollte, sich an einem Hutständer
aufzuhängen, habe ich mir gedacht, er wäre vielleicht besser hier.
Jarvis ist losgegangen, ihn zu holen … und, übrigens, da kommt
er schon.«
Zwei weitere Gestalten erschienen in jenem unterirdischen
Gang unter der Bühne: Die erste war Ashton Jarvis, ein fröhlicher
Bursche, der gewöhnlich Schurken gab, aber diese hohe Berufung
für den Augenblick an den krausköpfigen Jüngling mit der Nase
abgetreten hatte. Die andere Gestalt war kurz und stämmig und
schwarz gekleidet; es war Father Brown von der Kirche um die
Ecke.
Father Brown schien es für ganz natürlich und sogar selbstverständlich
zu nehmen, daß man ihn herbeirief, um das sonderbare
Verhalten eines Mitglieds seiner Herde zu erwägen, ob es nun als
schwarzes Schaf oder nur als verlorenes Lämmchen anzusehen
war. Aber er schien gar nichts von dem Hinweis auf Selbstmord
zu halten.
»Ich nehme an, es gab einen Grund dafür, daß sie dermaßen
die Selbstkontrolle verloren hat«, sagte er. »Weiß jemand, was das
war?«
»Ich glaube, unzufrieden mit ihrer Rolle«, sagte der ältere
Schauspieler.
»Sind sie immer«, brummte Mr. Mundon Mandeville.
Hörprobe (8:38) "Die Schauspielerin und das Alibi" aus der Reihe "Father Brown - Das Original" Laden des Audioplayers ...
|
Anmerkungen des Übersetzers Hanswilhelm Haefs
"Mandeville"
Da Sir John Mandeville lange Zeit unangefochten als Vater der englischen Prosaliteratur galt und für manche noch bis heute gilt, obwohl seine Person bis heute nicht identifiziert werden konnte, wohl aber feststeht, dass er die Reisen seines Reisebuches aus dem 14. Jahrhundert nie gemacht und die dort beschriebenen Abenteuer nie erlebt hat, sondern sie ingeniös aus den Berichten wirklicher Reisender "kompilierte", und da die Wissenschaft trotz der gegenteiligen Behauptung des Autors daran festhält, die Übersetzung ins Englische stamme auch nicht von ihm, ließ sich Chesterton wohl gerade hiervon zu diesem Namen anregen, dem dann alliterierend Mundon als Vorname zugefügt wurde - oder war es umgekehrt? Führte ihn ein Mundon zum alliterierenden Mandeville?
"krausköpfiger Jüngling mit leicht semitischem Profil"
Selbst der tolerante Chesterton lässt sich mit Hilfe solcher Formulierungen eines latenten Antisemitismus überführen.
"Die Lästerschule"
"The Schoolfor Scandal" von Richard Brinsley Sheridan (1751-1816), Uraufführung im Drury Lane Theatre 1777, gehört zu den wenigen großen Komödien der englischen Theaterliteratur. In einem Club ruinieren die Mitglieder zu ihrem Vergnügen den Ruf unschuldiger Menschen durch raffinierte Lügenmärchen und perfektionieren den bösartigen Klatsch zur hohen Kunst. Ihn leitet Lady Sneerwell (= Höhnegut), deren Liebe zum jungen verschwenderischen, aber herzensguten Charles Surface (= Oberfläche) unerwidert bleibt und die darum beschließt, seine Beziehungen zu Maria, der Heldin, zu untergraben, weshalb sie die Bemühungen seines geldgierigen skrupellosen jüngeren Bruders Joseph um Maria unterstützt. Joseph trägt die Maske der Moral und der Empfindsamkeit und hofiert gleichzeitig Lady Teazle (= Fopperin), die junge hübsche Frau des alten eigensinnigen, aber sympathischen Lord Peter, dessen Eifersucht er auf Charles lenkt. Die Wahrheit erfährt Sir Peter in der berühmten screen scene (= Wandschirmszene), in der sich Lady Teazle in Josephs Wohnung hinter einem Wandschirm verbirgt, dort aber von ihrem Mann und Charles entdeckt wird. Lady Teazle hatte jedoch mit Joseph nur pro forma kokettiert, weil es in ihren Kreisen eben üblich ist, einen Galan zu haben. Insgesamt besteht der gutherzige Verschwender Charles die Probe, die der kaltherzige Moralheuchler Joseph nicht besteht, Charles bekommt Maria, und anders als bei Chesterton kann bei Sheridan Lady Teazle die menschliche Größe ihres Mannes anerkennen und sich zum Guten wandeln.
"Fingerabdrücke"
Chesterton erwähnt hier, im Jahre 1927, erstmals auf diese so flüchtige Weise die kriminalistischen Möglichkeiten der Daktyloskopie, die 1851 B. Welker in die Anthropologie und 1901 E. R. Henry in die Kriminalistik eingeführt hatten.
"nil nisi bonum"
Richtig heißt es: "De mortuis nil nisi bene" = Über die Toten soll man nur Gutes reden (nach Chilon oder Solon, worin sich die uralte Furcht der Menschen vor den Geistern der Toten reflektiert, sie könnten - falls beleidigt oder unbefriedigt - aus dem Totenreich als Wiedergänger zurückkehren und den Lebenden Übles zufügen). Die Verkürzung besagt etwa das gleiche.
"Wille zur Macht ..."
Heute wird das "Recht auf Erfahrungen" als emanzipatorisches Grundrecht verhökert, von der Pflicht zur Nutzbarmachung gemachter Erfahrungen wird allgemein geschwiegen.
Eine Vervielfältigung oder Verwendung der Texte und Materialien dieser Website (oder von Teilen daraus) in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen und deren Veröffentlichung (auch im Internet) ist nur nach vorheriger Genehmigung gestattet.