Father-Brown

 

Bibliographische Skizze

 

Illustration der Originalausgabe von 'The innocence of Father Brown'

An Gilbert Keith Chesterstons Werk haben die als Buch konzipierten und geschriebenen Texte den geringsten Anteil. Von den 111 Buchtiteln, die bis 1955 verzeichnet sind, stellen 40 Sammelbände von vorher in Zeitschriften erschienenen Arbeiten dar und 9 schlichte Nachdrucke umfangreicherer Zeitschriftenessays. Und von den 62 übrigen Einzeltiteln dürfte wiederum ein beträchtlicher Teil eher in die Kategorie Broschüre als in die Kategorie Buch fallen. Da vor allem in den frühen Jahren viele Arbeiten Chestertons in vielerlei Zeitschriften, die längst nicht mehr existieren, oftmals ungezeichnet erschienen, ist bis heute nicht einmal das gesamte von ihm stammende Material, das auf diese Weise veröffentlicht wurde, identifiziert; und erhebliche Teile seiner nachgelassenen Schriften sind bis heute nie veröffentlicht worden. So ist bisher weder eine verbindliche abschließende Übersicht über sein Gesamtwerk noch entsprechend eine umfassende Bibliographie möglich. Die bisher einzige Bibliographie hat 1958 John Sullivan vorgelegt, aus der die nachfolgenden Angaben entnommen sind; 1968 veröffentlichte er ferner eine bibliographische Fortsetzung.

Es gilt nun dem Verdacht zu wehren, Chesterton sei naiv oder gar weltfremd gewesen, wozu manchen Leser zum Beispiel der Father-Brown-Geschichten voreiliges Beurteilen verführt hat. Naiv war Chesterton höchstens in dem Sinne, in dem die Güte des Herzens naiv ist. In meiner Biographischen Skizze wird knapp skizziert, wie genau G. K. Chesterton sich in den Abgründen des menschlichen Lebens umgetan hatte, ehe er zu seiner optimistischen Grundhaltung fand. In seiner Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und anderer missachteter Dinge - The Defendant schrieb er hierzu: "Der Pessimist gilt gemeinhin als der Mensch der Revolte. Er ist es nicht. Zunächst, weil es zur Fortsetzung einer Revolte eines gewissen Maßes an Fröhlichkeit bedarf, sodann, weil der Pessimismus an die Schwäche aller Menschen appelliert und sein Geschäft deshalb ebenso floriert wie das des Schankwirtes. Wer wirklich revoltiert, ist der Optimist, der allgemein in dem verzweifelten und selbstmörderischen Versuch lebt und stirbt, all die anderen Menschen davon zu überzeugen, wie gut sie sind."

Auch weltfremd war Chesterton mitnichten, wenngleich die Zahl der (belegten) Anekdoten über seine Zerstreutheit Legion ist: Einst telegraphierte er seiner Frau, dass er sich da und da befinde, wo er denn sein solle? Frau Frances, die ihren Gilbert kannte, telegraphierte zurück: Er solle heimkommen. Es erschien ihr leichter, ihn von da aus wieder in den richtigen Marsch zu versetzen, als ihn telegraphisch in noch tiefere Wirrnisse zu stürzen. So aber war er nur in belanglosen Alltagsfragen. In der Politik etwa vertrat er früh und unerschrocken eine Politik, die sich gegen allen großenglischen Chauvinismus stellte und sich immer wieder als klarsichtig und zutreffend erwies. Den Versailler Vertrag etwa kommentierte er so, dass "dieser Friede der Vater vieler Kriege" werden würde.

In einem Fragment über den Gesellschaftszustand um 1900 in Großbritannien schrieb er: "Es mag viele Leute sonderbar berühren, dass in einer Zeit, die in ihren intellektuellen Überzeugungen im ganzen so optimistisch ist wie die unsere, in einem Zeitalter, da nur eine kleine Minderheit nicht an einen sozialen Fortschritt und eine große Mehrheit an eine letzte soziale Vollendung glaubt" (was er heute wohl so nicht mehr schreiben würde), "unter zahlreichen jungen Menschen eine so müde und blasierte Stimmung herrscht. Schuld daran, meinen wir, ist nicht der Mangel eines letztgültigen Ideals, sondern der Mangel an irgendeiner unmittelbaren Möglichkeit, sich dafür einzusetzen: Es fehlt nicht an etwas, worauf man hoffen, sondern an etwas, was man tun könnte. Ein Menschenwesen ist nicht befriedigt und wird niemals befriedigt sein, wenn man ihm sagt, dass es ganz in Ordnung sei: Was es braucht, um es froh zu machen, ist nicht eine Vorhersage, was andere Leute in hundert Jahren sein werden, sondern eine neue und anspornende Bewährungsprobe und Aufgabe: Diese werden es mit Sicherheit froh machen." Welcher Sozialarbeiter in der Drogenszene und welcher Kenner der wirklichen Probleme der Arbeitslosigkeit würde ihm da nicht vollständig zustimmen?

Dass der Ironiker mit seiner Liebe zu funkelnden Paradoxa ("Nieder mit dem Kapitalismus - es lebe der König!") viel Gelächter, aber wenig Verständnis auslöste, wird niemanden verwundern. Doch sollten seine Sarkasmen jeden davor warnen, Chesterton als naiv oder weltfremd abzutun: "Ich bedauere, außerstande zu sein, der neugierigen Öffentlichkeit als die wahre Ursache meiner tragischen Veranlagung einen finsteren, brutalen Vater vorzuführen oder eine blasse, halbvergiftete Mutter, deren selbstmörderische Instinkte mich mit dem Fluch der Versuchungen des künstlerischen Temperamentes beladen haben. Es tut mir leid, dass sich in unserer Ahnenreihe nichts Rassigeres findet als ein entfernter, einigermaßen unbemittelter Onkel, und dass ich einer Pflicht nicht genügen kann, die mir als modernem Menschen eigentlich obläge: jeden zu verfluchen, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin. Zwar weiß ich nicht genau, was ich nun eigentlich bin, aber es scheint mir ziemlich sicher, dass das meiste davon auf meine eigenen Kosten geht."

Es lohnt sich, in Chestertons Geschichten mehr als nur unterhaltsame Detektivgeschichten zu sehen, vielmehr in ihnen einen goldenen Schlüssel zu erkennen, der Neugierigen die unerwartetsten Ausblicke und Einsichten aufschließen kann.

» Chronologische Bibliographie

 

Autor: Hanswilhelm Haefs

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