Der erste "Profiler" der Kriminalliteratur

Editorial zu den Hörbüchern der 1. Staffel ("Father Browns Einfalt")

 

Der erste Sammelband mit "Father Brown"-Geschichten wurde 1911 in Großbritannien veröffentlicht (die erste Story "Das Blaue Kreuz" erschien bereits im September 1910 im Magazin "The Storyteller"). Ihr Autor hatte sie bewusst als Gegenentwurf zum indizien-verliebten Sherlock Holmes konzipiert. Stand bei dem Detektiv aus der Baker Street die Technik bei der Verbrechensaufklärung im Mittelpunkt, so ist es bei Chesterton der Mensch mit seinen Stärken und Schwächen. Der Außenseiter Brown wurde so zum ersten "Profiler" in der Kriminalliteratur. Es war sein "Beruf", der ihn für diese Methode prädestinierte. Im Gegensatz zu seinen anglikanischen Kollegen durfte der katholische Priester seinen Schäfchen die Beichte abnehmen und konnte daher tief in die menschlichen Abgründe blicken. Mit diesem Wissen gelingt es dem unscheinbaren Geistlichen, sich in den Täter hineinzuversetzen und seine Fälle zu lösen. Chesterton gab seinem Detektiv noch einen weiteren Auftrag: Wichtiger als die Aufklärung eines Verbrechens und die Verhaftung des Täters ist dessen Reue. Die Auslieferung an die Polizei ist Nebensache, wenn der Verbrecher durch seine Reue ein neuer Mensch geworden ist. Flambeau ist dafür das beste Beispiel: Der Meisterverbrecher der ersten Erzählungen wird später zum Detektiv und besten Freund des kleinen Priesters.

Neben diesen missionarischen Zielen seiner Figur glänzen die Erzählungen durch die wortgewaltige Sprache Chestertons. Im deutschen Sprachraum war davon allerdings lange nur wenig zu spüren. Die ersten Übersetzungen waren häufig entschärft, verkürzt und in Teilen sinnentstellend "geglättet". Krimis sollten schließlich unterhalten - literarische Qualität und tieferer Sinn waren da nur hinderlich. Aus Father Brown wurde so Pater Brown, aus dem päpstischen Priester inmitten einer anglikanischen Welt ein gutmütiger Ordensmann mit kriminalistischen Ambitionen. Mit der weiteren Simplifizierung durch zwei Rühmann-Filme zu Beginn der 1960er Jahre wurde Chesterton dann schließlich zum "Drehbuchschreiber" von Heinz Rühmann degradiert. Vor diesem Hintergrund waren hierzulande der literarische Ruhm und die Bedeutung Chestertons im angelsächsischen Sprachraum schwer nachvollziehbar. Erst mit der Neuübersetzung der Erzählungen durch Hanswilhelm Haefs Mitte der 1990er Jahre erhielten die LeserInnen Zugang zur literarischen Qualität der Sprache Chestertons und der schillernden Vielfalt seiner Figuren und Szenarien.

Die Hörbücher dieser Reihe bieten nun Gelegenheit, die Erzählungen ungekürzt und in der sprachlichen Brillanz dieser Neuübersetzung zu entdecken - rund 100 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung. Begleitet wird die Reihe im Internet durch eine umfangreiche Website mit Anmerkungen des Übersetzers zu den einzelnen Erzählungen, editorischen Notizen zu Chestertons Leben und Werk sowie detaillierten Vergleichen zur Übersetzungsproblematik.

 

Autor: Claus Vester

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