Father-Brown

 

Detektivgeschichten oder Kriminalgeschichten?

 

Nachdem nun solchermaßen jeder Zweifel an Chestertons literarischer Bedeutung ausgeräumt sein dürfte, bleibt als letztes die Frage übrig, ob Chesterton tatsächlich Kriminalgeschichten geschrieben hat. Er selbst hat in seiner berühmten "Verteidigung der Detektivgeschichten" ausdrücklich und ausschließlich eben nur von solchen gesprochen; und sein Vergleich moderner Detektive - ob nun beamteter der Polizei oder eben privater - mit den Rittern der Tafelrunde oder den Fahrenden Rittern vergangener Zeiten und Ritterromane legt den Verdacht nahe, dass Chesterton den jeweiligen Kriminalfall (wenn es denn überhaupt einen gibt) nur als Aufhänger für den Plot, als einen grellen Faden im vielschichtigen Gespinst seiner Erzählungen angesehen hat (seien es nun solche über Father Brown oder über die Abenteuer seines guten Dutzend anderer Detektive, die im Grunde aber nur Varianten zu Father Brown sind). In seinen Geschichten spielt jedenfalls die Lösung des jeweiligen Kriminalfalles eine viel geringere Rolle als die Aufdeckung jener Wahrheit(en), um die es Chesterton jeweils geht.

Viele der großen Autoren des Genres würden wahrscheinlich mehr oder minder verschämt der Bezeichnung des Detektivs als moderne Form des Fahrenden Ritters, wie G. K. Chesterton sie entwickelt hat, zustimmen: von de Baantjer bis van de Wetering, Ed McBain und Chandler, Chase und Hammett und Himes und Keating, von Cheyney und Ørum, Ross Thomas und Woolrich und Sjöwall/Wahlöö ganz zu schweigen. Und sicherlich entspricht niemand dem nobel-romantischen Bild vom fahrenden Gralsritter mehr als Father Browns französischer Freund Flambeau, nachdem er ihn vom Dieb zum Diebsfänger verwandelt hatte. Aber Father Brown selbst?

Marie Smith schrieb im Vorwort zu ihrer Sammlung Thirteen Detectives [06], in den 70er Jahren habe sich der literarische Geschmack auch in Sachen Detektivgeschichten drastisch verändert: Chestertons Ruhm aber habe überlebt, wo der vieler anderer untergegangen sei. Und dann zitiert sie aus Julian Symons "Bloody Murder", seiner Geschichte dieser Literaturgattung, dessen schneidende Verurteilung der faden Langweiligkeit vieler früherer Autoren des Fachs und sodann seinen Lobgesang:

Die kurzen Detektivgeschichten, die Gilbert Keith Chesterton geschrieben hat, sind so scharf, paradox und romantisch wie die Novellen, Gedichte, literarischen Kritiken und journalistischen Arbeiten, die seiner gelegentlich nur zu willigen Feder entströmten ... Geschichten, in denen die Wirklichkeit aussieht wie Phantasterei. Die besten dieser Erzählungen gehören zu den besten short crime stories, die jemals geschrieben wurden .... Chesterton lesen bestärkt die Wahrheit, dass die besten Detektivgeschichten von Künstlern und nicht von Kunsthandwerkern geschrieben wurden.

Wie wäre hier wohl der Begriff short crime story am treffendsten zu übersetzen?

Im gleichen Zusammenhang schrieb der Kenner und Könner Keating 1987 [07]:

Chestertons Gabe der Paradoxie blühte vielleicht am reichsten in seinen Detektivgeschichten auf. Die Fähigkeit, Paradoxes zu erkennen, ist eine, die sich jeder Verfasser von Detektivgeschichten als Gabe von seiner Patenfee erbitten sollte. Detektivgeschichten hängen davon ab, plötzlich etwas richtig zu sehen, was oftmals bedeutet, es vom Kopf auf die Füße zu stellen. Poe hat uns gezeigt, dass der beste Platz, um einen Brief zu verstecken, ein Briefkorb ist. Conan Doyle hat uns erzählt, das wirklich Wichtige sei gewesen, dass der Hund in der Nacht nicht gebellt hat. Diese Gabe war im Falle Chestertons um so besser, als sie nicht nur von der Freude eines Puzzlespielers an der Erschaffung von Rätselspielen angefeuert wurde, sondern von dem ganzen Mann und seinen Überzeugungen. Er sah alles gleichermaßen oft auf dem Kopf wie auf den Füßen stehend. Und nirgendwo mehr als in seiner fortlaufenden Beschreibung von Father Brown ... dem kleinen katholischen Priester, der irgendwie zugleich auch einer aus dem Rudel der großen Detektive ist.

Ähnlich Jorge Luis Borges in seinem bereits erwähnten Vorwort zu "Apollos Auge" [03], in dem es zu den Detektivgeschichten Chestertons heißt:

Die Arbeit Chestertons als Kritiker - seine Bücher über Dickens, Browning, Stevenson, Blake und den Maler Watts - ist ebenso bezaubernd wie tiefgründig; seine Romane, um die Jahrhundertwende geschrieben, vereinen Mystik mit Phantasie; aber sein derzeitiger Ruhm beruht vor allem auf dem, was man das "Heldenlied vom Pater Brown" nennen könnte. Es ist denkbar, eine Zeit vorauszusehen, in der der Kriminalroman - Poes Erfindung - verschwunden sein wird, denn er ist die unnatürlichste aller Literaturgattungen und die, die am meisten einer Spielerei ähnelt. Chesterton selbst hat hinterlassen, dass der Roman ein Spiel mit Gesichtern ist und der Kriminalroman ein Spiel mit Masken ... Trotzdem bin ich sicher, dass man die Geschichten von Chesterton immer lesen wird, weil das Geheimnis, das ein unmögliches oder übernatürliches Ereignis vermuten lässt, so interessant ist wie die den Gesetzen der Logik gehorchende Lösung, die uns die letzten Zeilen bescheren.

Bevor er sich an die Literatur wagte, versuchte Chesterton es mit der Malerei, daher ist sein Werk bemerkenswert visuell.

Seine Sekretärin und beste Biographin, Maisie Ward, hat die freundliche Indiskretion begangen, uns zu verraten, dass der Meister vor Beginn des Diktats mit der Zigarre ein verstohlenes Kreuzzeichen zu schlagen pflegte. Der korpulente Riese versäumte nie, sich in göttliche Obhut zu begeben.

» Chestertons Father-Brown-Geschichten

 

Autor: Hanswilhelm Haefs

Eine Vervielfältigung oder Verwendung der Texte und Materialien dieser Website (oder von Teilen daraus) in anderen elektronischen oder gedruckten Publikationen und deren Veröffentlichung (auch im Internet) ist nur nach vorheriger Genehmigung gestattet.