Father-Brown

 

Chestertons Father-Brown-Geschichten

 

Zu den Father-Brown-Geschichten zählen die für mein Gefühl besten Geschichten Chestertons: In The Queer Feet (Die sonderbaren Schritte) wird eine neue Art von Verkleidung erfunden; in The Honour of Israel Gow (Die Ehre des Israel Gow) ist das gespenstische Schloss in Schottland wesentlicher Bestandteil eines anscheinend unlösbaren Rätsels; in The Eye of Apollo (Das Auge Apollos) dient der Kult eines antiken Gottes zur Ausführung eines Verbrechens; schon der Titel von The Duel of Dr. Hirsch (Das Duell des Dr. Hirsch) - deutlicher will ich nicht werden - ist ein logischer Fehlschluss. Das alte Thema vom Doppelgänger, das Stevenson und Dostojewski zu ihren berühmten Werken angeregt hat, wird hier auf originelle Weise abgehandelt, ich will die dabei verwendeten Mittel dem Leser nicht verraten, der sie scharfsinnig mit Bewunderung entdecken wird.

Marie Smith hat an anderer Stelle festgehalten, dass C. Day Lewis als "Nicholas Blake" und W. H. Auden die Detektivgeschichte als eine Form des modernen Märchens bezeichnet haben:

Das ist eine Ansicht, die heute kaum noch in Mode ist, da man die Wahrheit mit Realismus gleichsetzt, aber ich glaube, dass wir Chestertons Geschichten als Märchen betrachten sollten - er würde das sicherlich als großes Lob empfunden haben -, die eine tiefere Wahrheit ausdrücken können.

Und wiederum muss Jorge Luis Borges zitiert werden, der sich lange und eingehend mit dem Thema Kriminalroman und Kriminalgeschichte beschäftigt hat. In seinem Essay über Nathaniel Hawthorne im Band Inquisitionen [04] stellt er auf S. 81 zu dessen Erzählungen fest:

Unter den abgeschlossenen ist eine - "Mr. Higginbotham's Catastrophe" -, die das von Poe eingeführte Genre der Detektivgeschichte vorwegnimmt."

In seinem Essay "Über die Kriminalgeschichte" von 1978 heißt es dann auf S. 59 weiter:

In England, wo man diese Gattung vom psychologischen Gesichtspunkt her betreibt, finden wir die besten Kriminalromane überhaupt: Die Frau in Weiß und Der Monddiamant von Wilkie Collins. Danach haben wir Chesterton, Poes großen Erben. Chesterton sagte, nie seien bessere Kriminalerzählungen geschrieben worden als von Poe, aber mir erscheint Chesterton als der bessere von beiden. Poe schrieb rein phantastische Erzählungen. Denken wir zum Beispiel an Die Maske des Roten Todes oder Das Fass Amontillado; beide sind rein phantastisch. Daneben seine intellektuellen Erzählungen, wie die fünf Kriminalgeschichten. Chesterton dagegen tat etwas völlig anderes; er schrieb Erzählungen, die phantastisch sind und gleichzeitig mit einer kriminalistischen Lösung enden.

Alsdann erörtert Jorge Luis Borges kurz die Geschichte "Der unsichtbare Mann", beschreibt das Verhalten des Mörders und schließt:

Father Brown sucht ihn auf, redet mit ihm, hört seine Beichte, spricht ihn los - in Chestertons Erzählungen gibt es weder Verhaftungen noch Gewalttätigkeiten.

An dieser Stelle sei mir eine Zwischenbemerkung gestattet. Es ist gerade dieses - sagen wir - grundkatholische Verhalten Father Browns, das ihn von seinem einzigen ernstzunehmenden Rivalen grundlegend unterscheidet: von Kemelmans "Rabbi Small", natürlicherweise. Und damit ebenso natürlicherweise die Father-Brown-Geschichten insgesamt von den Rabbi-Small-Geschichten.

Aber zurück zu Jorge Luis Borges. Borges schrieb 1952 in seinem Essay "Über Chesterton" [04] unter dem Motto "Weil Er das Grauen aus dem Baum nicht nimmt ..." (aus G. K. Chestertons A Second Childhood):

Edgar Allan Poe schrieb Geschichten rein phantastischen Horrors oder reiner Bizarrerie; Edgar Allan Poe war der Erfinder der Kriminalgeschichte. Ebenso unbestreitbar ist die Tatsache, dass er die beiden Gattungen nicht kombiniert hat. Er betraute nicht den Chevalier Dupin mit der Aufgabe, das alte Verbrechen des Mengenmannes festzustellen oder das Trugbild zu entschlüsseln, das in der schwarzen und scharlachroten Kammer den maskierten Fürsten Prospero mit einem Blitzschlag fällte. Chesterton dagegen hat mit Passion und glücklichem Gelingen diese tours de force immer wieder fertiggebracht. Jedes einzelne Stück aus der Saga von Father Brown präsentiert ein Mysterium, bietet Erklärungen dämonischer oder magischer Art an und ersetzt sie schließlich durch andere, diesseitige. Meisterschaft ist nicht die einzige Tugend dieser kurzen Fiktionen; ich glaube, in ihnen eine Chiffre der Geschichte Chestertons wahrzunehmen, ein Symbol oder einen Spiegel Chestertons. Dass er sein Schema im Laufe der Jahre und der Bücher (The Man who knew too much; The Poet and Lunatic; The Paradoxes of Mr. Pond) wiederholt, scheint zu bestätigen, dass es sich um eine Grundform handelt, nicht um ein rhetorisches Kunststück.

Hier sei erneut eine Zwischenbemerkung gestattet: Die bereits 1914 geschriebene Erzählung Die Donnington-Affäre scheint mir auf eigenartige Weise in der Schreibart eher zu den in Chestertons letzten Jahren entstandenen Geschichten des 5. Bandes der Father-Brown-Geschichten zu passen als zu den früheren, weshalb sie im 5. Band dieser Neuübersetzungen ans Ende gestellt wurde. Denn sie könnte auch vom Inhalt her durchaus als eine Summe allen Denkens des Father Brown gelten. Und bestätigt so gewissermaßen die vorstehende Überlegung von Borges, der weiterschrieb:

Diese Notiz will ein Versuch sein, diese Form zu interpretieren ... Chesterton war Katholik, Chesterton glaubte an das Mittelalter der Präraffaeliten (London, small and white, and clean), Chesterton dachte, wie Whitman, dass kein Unglück uns von einer Art kosmischer Dankbarkeit entbinden dürfe. Solche Glaubensüberzeugungen mögen richtig sein, aber das Interesse, das sie erwecken, ist begrenzt; anzunehmen, dass sie Chesterton erschöpfen, heißt vergessen, dass ein Credo das letzte Glied einer Kette geistiger und emotionaler Vorgänge, der Mensch aber die ganze Kette ist ...

Poe und Baudelaire nahmen sich wie der gequälte Urizen von Blake die Erschaffung einer Schreckenswelt vor; ganz natürlich wimmelt es in ihrem Werk von Horrorgestalten. Chesterton hätte sich, scheint mir, dagegen verwahrt, als Schreckensspezialist, als monstrorum artifex (Plinius XXVIII, 2) bezeichnet zu werden, aber unweigerlich verfällt er auf grässliche Einzelheiten. Er fragt, ob vielleicht ein Mensch drei Augen hat oder ein Vogel drei Flügel; er führt, gegen die Pantheisten, einen Toten an, der im Paradies die Entdeckung macht, dass die Geister der Engelschöre unwandelbar sein Gesicht haben; er spricht von einem Spiegelkerker; er spricht von einem Labyrinth ohne Mittelpunkt; er spricht von einem Mann, der von Metallautomaten verschlungen wird; er spricht von einem Baum, der Vögel frisst und anstelle von Blättern Federn treibt ... Derlei Beispiele, die man beliebig vermehren könnte, beweisen, dass Chesterton sich dagegen wehrte, Edgar Allan Poe zu sein oder Franz Kafka, dass aber etwas in der Grundbeschaffenheit seines Ichs zum Albtraum neigte ... Er verlästerte Ibsen ..., aber die Trolle und der Gießer im Peer Gynt waren aus dem Stoff seiner Träume gemacht ... Dieser Zwiespalt und diese gewaltsame Unterjochung einer dämonischen Willenskraft bestimmen Chestertons Wesen. Embleme dieses Widerstreits sind für mich die Abenteuer des Father Brown, von denen jedes eine unerklärliche Tatsache allein mit Hilfe der Vernunft klären will. Nicht die Erklärung des Unerklärlichen, sondern des Verworrenen ist es, was sich Kriminalautoren im allgemeinen vornehmen. Wie gesagt: Diese Fiktionen sind Chiffren der Geschichte Chestertons, Symbole und Spiegel Chestertons. Das ist alles; nur dass die "Vernunft", der Chesterton seine Phantasien unterstellte, eben nicht die Vernunft war, sondern der katholische Glaube oder, sagen wir, ein Komplex hebräischer Vorstellungen, der Platon oder Aristoteles angehängt worden ist.

Hat Jorge Luis Borges Chestertons Vernunftvorstellung richtig beschrieben, oder ausreichend? Er scheint sich da selbst in Zweifeln befunden zu haben, denn er fährt fort, Chestertons Wesen mit Hilfe zweier gegensätzlicher Parabeln zu beschreiben. Die erste ist die aus Kafkas Erzählungen: Da geht es um einen Mann, der um Eintritt in das Gesetz bittet. Der Türhüter am ersten Tor beschreibt ihm, was ihn drinnen erwarte, und er setzt sich nieder und wartet, und nach langen Jahren stirbt er, und im Sterben fragt er, wieso sonst niemand um Einlass gebeten habe. Da erfährt er:

Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt.

Die zweite Parabel aus Bunyans The Pilgrim's Progress beschreibt eine Burg, die von vielen Kriegern bewacht ist und von einer großen Menge Volkes begafft wird; ein Türhüter hat ein Buch, in das er den Namen dessen einzutragen hat, der würdig ist, die Burg zu betreten. Da kommt ein Unerschrockener, nennt seinen Namen, stürzt sich auf die Krieger und schlägt sich einen blutigen Pfad ins Innere der Burg. Jorge Luis Borges:

Chesterton setzte sein Leben daran, die zweite der beiden Parabeln zu schreiben, aber etwas in ihm neigte immer dazu, die erste zu schreiben.

Und ein letztes Zitat zum Thema "Chesterton und Father Brown" aus Borges's Gespräch "Über die Kriminalgeschichte" [02], in dem es auf S. 208 f. heißt:

Im Falle Chesterton ... bestimmt würde ich sagen, das sind die Meisterwerke der Gattung, zumal diese Kriminalgeschichten zugleich ja Geschichten des Übernatürlichen sind: In jeder Erzählung wird eine übernatürliche Lösung angedeutet. Und dann kommt eine Lösung, die wir als rational anerkennen müssen, dargeboten von Father Brown oder einem der anderen von Chesterton erschaffenen Detektive. Und außerdem sind diese Geschichten ... wie Theaterstücke oder auch wie Bilder ... Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass Chesterton zuerst Maler werden wollte; und dann hat er die Malerei und das Zeichnen aufgegeben und sich der Literatur zugewandt, aber in der Literatur ist er ein Maler geblieben ... Und außerdem ist alles in bestimmter Weise aufeinander abgestimmt; die Personen tauchen auf, als ob sie eine Bühne beträten. Und immer gibt es da zum Beispiel eine Frau mit rotem Haar, und diese rothaarige Frau sieht man ... vor einem orangeroten Sonnenuntergang ... Die Himmel, die Wälder, die Landschaften, die Architektur - die Architektur ist in jeder Geschichte anders; es gibt Geschichten, die zum Beispiel für eine gotische Kathedrale geschrieben sind. Und das Rätsel gleicht sich dem an; es nimmt diese Gestalt an. Andere sind für die Highlands konstruiert, die schottischen Hochlande; und andere für die Vororte von London, diese ruhigen Gärten der Londoner Umgebung ... Und alles ist auf die jeweilige Umgebung abgestimmt. Ein weiterer seltsamer Zug der Geschichten von Chesterton besteht darin, dass niemals irgendjemand bestraft wird. Sicher, Father Brown, der Detektiv, ist ein Priester und kann niemanden der Polizei ausliefern. Deshalb kommt es vor, dass der Mörder stirbt oder verhaftet wird, aber Father Brown ist niemals ein, sagen wir, Inquisitor, ein Vollstrecker, ein Henker; nein, er ist ein nachsichtiger Mensch. Und manchmal, in einigen Geschichten, zum Beispiel in Der Unsichtbare, entdeckt Father Brown den Mörder, und sie unterhalten sich lange. Es wird angedeutet, dass der Mörder bereut und dass Father Brown ihm die Absolution erteilt hat, denn es wird nicht mehr von ihm gesprochen; das weitere Schicksal des Mörders hat keine Bedeutung mehr. Und Father Brown bleibt unbefleckt.

Diese Zitate aus den besten Kommentaren zu Chesterton und Father Brown erheben beider Qualitäten zwar über jeden Zweifel. Doch scheint mir, dass noch vieles Wichtige ungesagt geblieben ist.

Da ist zum einen die Tatsache, dass Father Brown eine ganze Reihe von Kriminalfällen löst (wenn das Wort überhaupt zutrifft), die gar keine sind. Ich meine damit nicht jene, in denen Father Brown das jeweilige Verbrechen gar nicht zur Ausführung kommen lässt, etwa die drei Geschichten über seinen nachmaligen Freund Flambeau aus der Zeit, als er noch Dieb war und noch nicht als Diebsfänger Gutes tat (vgl. Band 1, Father Browns Einfalt, 1., 3. und 4. Geschichte) und all die anderen, bei denen selbst ausgefuchste angelsächsische Juristen Mühe hätten, einen einklagbaren Fall herauszufiltern. Ich spreche von den Geschichten, die wie Die Ehre des Israel Gow oder Die Abwesenheit von Mr. Glass oder Die Auferstehung von Father Brown oder Father Browns Geheimnis oder Father Browns Skandal nicht von einem Verbrechen handeln, sondern davon, dass sich die normale sozialisierte Vernunft, zumal die für wissenschaftlich-logisch gehaltene, ein Verbrechen einbildet, wo es überhaupt keines gibt. Wo es lediglich darum geht, dass man aus Gründen anerzogener Sehweisen in der Wirklichkeit eine andere Wahrheit glaubt sehen zu müssen, als in ihr enthalten ist. Typisch für G. K. Chesterton / Father Brown ist nun, dass bereits in der ersten dieser Erzählungen, in Die Ehre des Israel Gow, Father Brown selbst in diese Falle tappt und sich deshalb dann auch entsprechend ausschilt. Kann man hier wirklich von Kriminalgeschichten sprechen? Oder bei Father Browns Märchen, wo sich ein dramatischer historischer Mord als Tötung durch Zufall und gegen den Willen dessen herausstellt, der den Befehl zur Handlung gab und dann sozusagen zufällig sein eigenes Opfer wird? Oder vielleicht doch wiederum nicht so ganz zufällig?

Father Brown erörtert diese Zusammenhänge verschiedentlich und leicht übersehbar, am deutlichsten sicherlich in der Erzählung Der Schnelle, in der er mit schwacher Stimme klagt:

Ich sage Dinge, aber alle anderen scheinen zu wissen, dass sie mehr bedeuten, als sie sagen. Einmal habe ich einen zerbrochenen Spiegel gesehen und gesagt "Etwas ist geschehen", und alle anderen antworteten: "Ja, ja, wie Sie so richtig feststellen, haben zwei Männer miteinander gerungen, und einer ist in den Garten gerannt" und so weiter. Ich verstehe das nicht. "Etwas ist geschehen" und "Zwei Männer haben miteinander gerungen" erscheint mir überhaupt nicht wie das gleiche; aber ich wage dennoch zu behaupten, dass ich alte Bücher über die Logik gelesen habe.

Man lese die ganze Passage selbst und gehe ihr in all ihren Feinheiten geduldig nach. Mir jedenfalls erscheint diese Stelle so, als wolle Father Brown sagen: Ihr hört mir mit den Ohren der angeblich so logischen positivistischen Wissenschaft zu, zu der die vernünftige Aufklärung verkommen ist, während ich, geschult an der alten scholastischen Logik, bemüht bin, nur die Wahrheiten zu sagen, die die Wirklichkeiten vorzeigen. Natürlich steckt in dieser Differenz zwischen der Redeweise Father Browns und der Hörweise der anderen ein Teil jener erzählerischen Kniffe, mit denen G. K. Chesterton nach guter alter Detektivgeschichtentradition den Kern seiner Erzählungen so lange wie nur möglich zu verschleiern sucht. Aber in ihr steckt eben noch sehr viel mehr.

Da ist zum anderen die Tatsache, dass G. K. Chesterton / Father Brown bestimmte Themen in ganz unterschiedlichen Geschichten immer wieder mit identischem Tenor abhandelt: etwa die Frage der krummen orientalischen Formen und deren Bedeutung (z. B. in Die falsche Form, Das Zeichen des zerbrochenen Säbels, Der Salat von Oberst Cray, Das Lied vom Fliegenden Fisch, Das Verschwinden von Vaudrey, Der Rote Mond von Meru sowie Der Schnelle). Schon der Titel der Erzählung Die falsche Form verrät die Richtung. Da heißt es:

... orientalische Himmel, die schlimmer sind als die meisten westlichen Höllen ...

und

östliche Kunst ... Die Farben sind berauschend lieblich; aber die Formen sind niedrig und schlecht ... Die Linien laufen absichtlich falsch - wie Schlangen, die sich zur Flucht krümmen ...

und schließlich:

"Sehen Sie doch nur", rief Father Brown und hielt das gekrümmte Messer auf Armeslänge, als ob es eine glitzernde Schlange wäre. "Sehen Sie die falsche Form denn nicht? Sehen Sie nicht, dass es keinen gesunden und einfachen Zweck hat? Es hat keine Spitze wie ein Speer. Es schneidet nicht wie eine Sense. Es sieht nicht aus wie eine Waffe. Es sieht aus wie ein Foltergerät.

Die Gründe für Chestertons Abneigung gegen diese "orientalischen Formen" wird man in seiner Biographie finden können.

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Es wäre leicht, zu jedem beliebigen Thema der Father-Brown-Geschichten eine Sammlung von für G. K. Chesterton charakteristischen Zitaten zusammenzustellen, die seine völlig unabhängige, souveräne Denkweise ebenso verdeutlichen wie die Tatsache, dass es ihm in den Father-Brown-Erzählungen in erster Linie nicht um Kriminalgeschichten geht. In Der Kopf Caesars etwa heißt es:

Was wir alle am meisten fürchten, ist ein Irrgarten ohne Mittelpunkt. Darum ist der Atheismus nur ein Albtraum.

In Das eigentümliche Verbrechen von John Boulnois stellt Father Brown fest:

Für mich ist eine moralische Unmöglichkeit die größte aller Unmöglichkeiten.

(Woraus sich nebenbei die Frage ergibt, ob Chesterton hier nicht - wie viele - Moral mit Ethos verwechselt, wo nicht gar in eins setzt).

In Die Klage des Marquis von Marne liest man schließlich:

Sie vergeben Verbrechern nur dann, wenn sie begehen, was Sie gar nicht als Verbrechen ansehen, sondern eher als Konventionen.

Am deutlichsten wird das vielleicht in der Behandlung der beiden Mörderinnen, von denen Chesterton seinen Father Brown berichten lässt: in Die Schauspielerin und das Alibi und in Die Donnington-Affäre. In keinen anderen Geschichten sind die tatsächlichen Tathinweise so dürftig, bedarf es schließlich so ausführlicher Erklärungen Father Browns, um klarzulegen, was geschehen ist, weil es warum so geschehen sein musste. Selbst bei guten Kenntnissen der englischen Theaterliteratur wird wohl kaum jemand den entscheidenden Hinweis verstehen, anhand dessen Father Brown das Geheimnis der Schauspielerin enträtselt, das in der Ermordung ihres Mannes besteht, um für ihren Geliebten, den Schauspieler Knight, frei zu werden. Und als ihn jemand fragt: "Hat sie Knight tatsächlich so geliebt?", erreicht die Theologie G. K. Chestertons bzw. Father Browns im Sinne einer Seelsorgetheologie den vielleicht krassesten und unerwartetsten Gipfel:

Ich hoffe, denn das wäre wirklich die menschlichste Entschuldigung.

Diese Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, wie reiche Ernte eine gründliche Ausdeutung der Father-Brown-Erzählungen Chestertons, aber auch seiner anderen Essays und Erzählungen, erbringen könnte.

Und zum dritten ist da die Tatsache, dass Chesterton in einer oftmals geradezu unglaublichen und atemberaubenden Schreibkunst versteht, dem Leser durch Sprach- (und Schreib-Bewegungen die Bewegungen seiner Gedanken- und Bilderwelt nahezubringen. Auf einiges davon wird in den Erläuterungen der Übersetzungsfragen hingewiesen. Ein letzter Punkt zu diesem Themenbereich sei hier angeführt. Bei der Lektüre insbesondere der Father-Brown-Geschichten entsteht sehr rasch der Eindruck, als ob Chesterton gemessen am Üblichen unverhältnismäßig oft relativierende Füllwörter wie "it seems", "seemingly", "rather", "nearly" usw. sowie entsprechende Konjunktive und syntaktische Fügungen verwendet (man erinnere sich an Max Frischs konjunktivischen Roman Mein Name sei Gantenbein).

Dieses Verhalten hat mich sehr bald an die alte Form der Formulierung mathematischer Aufgaben gemahnt: Lateinisch hieß das "Ut sit ...", deutsch "Es sei ...". So, als habe Chesterton sagen wollen: Vorausgesetzt, es gäbe folgende Fakten, dann hätte man sie nach den alten Regeln der Vernunft, wie sie von der scholastischen bis zur humanistischen Aufklärung entwickelt worden sind, so zu beurteilen, wie es mein Father Brown tut; und nicht nach den ebenso verkommenen wie pseudostrengen Regeln der positivistischen Logik, die sich nach der Französischen Revolution im Aufschwung der Naturwissenschaften als Verhaltensregeln konventioneller, aber unmoralischer, weil a-ethischer Gesellschaftsordnung an die Stelle der alten Vernunft gesetzt haben.

Father Brown ein fahrender Gralsritter? Sicherlich. Doch sieht er das schlimmste Verbrechen nicht in einem Mord, sondern in der Ermordung der Menschlichkeit durch das Grundübel der Sünde wider den Heiligen Geist: durch modernen sogenannten Rationalismus.

Und noch einige weitere Fragen gibt es: Dachte G. K. Chesterton in den Bahnen des Glaubens an eine vorgegebene Kausalität? Oder versuchte er, aus dem Sammelsurium erkennbarer Fakten Sinnschöpfung zu betreiben? Das Vorhandene als Bruchstücke des zu Erfüllenden zu sehen? Oder als Mosaiksteine, aus denen jeder beliebige, aber nur ein sinnvoller Text zu erschaffen ist?

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Autor: Hanswilhelm Haefs

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